Curriculum-Workshop 1997

Positionspapiere

 

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Das Informatikstudium: Zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und Erwerb von Berufsfähigkeit?

 

4. und 5. Dezember 1997, Hotel Rosop, Barnstorf

 

Erster Workshop im Rahmen des Projekts Informatica Feminale – Sommeruniversität für Frauen in der Informatik

 

Workshop-Organisation
Veronika Oechtering und Dr.-Ing. Karin Vosseberg
AG Theoretische Informatik
Fachbereich Mathematik/Informatik

Universität Bremen
Postfach 330440
28334 Bremen

 

 

Forschendes Lernen in praktischen historischen Lernprojekten

Positionspapier zum Curriculumsworkshop "Das Informatikstudium: Zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und dem Erwerb von Berufsfähigkeit" des Projekts "Informatica Feminale" vom 4.-5. Dezember 1997

 

Bettina Törpel, Mechthild Koreuber, Katharina Schmidt-Brücken

 

 

Für dieses Positionspapier stützen wir uns auf Beobachtungen im Studiengang Informatik der TU Berlin, in dem seit dem WS 1991/1992 eine neue Studien- und Prüfungsordnung gilt. Wir nehmen an, daß vieles auch für andere Informatikstudiengänge zutrifft. Wir denken, daß das Informatikstudium sowohl der Form als auch dem Inhalt nach verbesserungsbedürftig ist. Nicht nur Frauen haben unter der Fehlkonzeption des Studiums zu leiden. Neuen Zahlen zufolge hat sich mit der aktuellen Studien- und Prüfungsordnung die durchschnittliche Dauer des Grundstudiums von 5 auf 7 Semester erhöht. Jedoch lassen die neuen Studienbedingungen Frauen noch weniger Chancen als Männern. So liegt der Anteil der Informatik-Studienanfängerinnen seit Jahren um die 15%, nachdem er in den 70er Jahren wesentlich höher lag. Der Anteil der Informatikstudentinnen, die das Vordiplom ablegen, ist geringer als der entsprechende Anteil bei ihren männlichen Kollegen; das Diplom erreichen noch weniger Frauen eines Jahrgangs im Vergleich zum Anteil der Männer.

 

Erfahrungen, die etwas zur Sache tun

Menschen, die in dieser Gesellschaft aufgewachsen sind, haben so viel mitbekommen, daß sie zu vielen Themen schon einen Fundus an Vorwissen oder relevanten Kenntnissen haben. Wir halten es für den Studienerfolg von Frauen für wichtig, daß sie erleben können, daß ihre jeweils ganz individuellen Erfahrungen und Fähigkeiten etwas zur Sache tun. Wenn informationstechnische Produkte verstanden werden als bedeutungsvolle und u. U. wesentliche Bestandteile des Alltags von Menschen und die Informatik als Disziplin, die Konzepte und Methoden zur Erstellung informationstechnischer Produkte bereitstellt, dann tun die verschiedenartigsten Erfahrungen mit der Welt für das Lernen in der Informatik etwas zur Sache. Dann wären viele Frauen und Männer mit ihren jeweiligen Erfahrungen genau richtig in diesem Studiengang. Hier könnten sie sich als Einstieg in die Auseinandersetzung mit Themen ihrer bisherigen Fähigkeiten, Erfahrungen und Hypothesen bewußt werden, um sie dann aufzugreifen, zu prüfen und weiterzuentwickeln. Nun ist die Frage, was viele Studierende und unserer Vermutung nach insbesondere Frauen daran hindert, alle informatikrelevanten Arten von Vorerfahrungen für das Informatikstudium zu nutzen und wie sich dies ändern könnte.

 

In technischen Studiengängen einschließlich des Informatikstudiengangs bestimmen die Bilder vom Mann als Bastler, der sich Technik spielend und im trial-and-error-Verfahren aneignet und von der Frau als sprachgewandt und für´s Kommunikative, Emotionale und Reproduktive zuständig den Umgang vieler Lehrender mit den Studierenden und vieler Studierender untereinander. Selbst wenn Männer und Frauen nicht das als typisch geltende Profil von Vorerfahrungen haben, wird bei Männern ein Potential für Technik angenommen, das Frauen abgesprochen wird. Technik wird verklärt als eine Sphäre jenseits des Sozialen und alltäglich Bedeutungsvollen. Frauen müssen daher immer wieder die erleben, daß ihre Vorkenntnisse als minderrangig gelten und es geradezu scheint, als gäbe es bei ihnen gar nichts auszubauen, sondern - voraussetzungslos - nur etwas aufzubauen. Männer gelten als kenntnisreich, Frauen als defizitär. Wenn Männer über lange Zeiträume als potentialreich und Frauen ebenso lange als potentialarm gelten, so ist es schwierig, nicht jeweils diese Sicht auf sich selbst anzuwenden. Es besteht die Gefahr, daß sich die Selbstbilder den Erwartungen von außen annähern und Frauen aufgeben, von ihren jeweiligen Kenntnissen aus die Informatik (weiter) kennenzulernen. Lassen sie sich darauf ein, vermeintliche Defizite aufzuholen, so werden stets weitere solcher "Defizite" auftreten, da die Frau unentrinnbar weiter als im technischen Bereich defizitär gilt. Uns scheint es mehr zu versprechen, an allen individuellen Erfahrungen und Qualifikationen anzusetzen, um von dort aus zu weiteren Qualifikationen zu gelangen.

 

Das aktuelle Informatikstudium

Im aktuellen Informatikstudium werden bestimmte Arten relevanter Vorerfahrungen positiv gewertet und andere, gleichermaßen relevante, Vorerfahrungen abqualifiziert. Dies geschieht u. a. mittels des "Umcodierungsideologems" als der zentralen Annahme des Informatikstudiums. Es lautet etwa so: Zwar mag die Welt aus Materie, Ideen, Phänomenen oder anderem bestehen; für den informatischen Zugang spielen jedoch nur die Repräsentationen eine Rolle. Die Aufgabe der Informatik besteht in dieser Sicht in der bedeutungstreuen Umcodierung verschiedener Repräsentationen. Die wesentlichen Bestandteile der Arbeit von InformatikerInnen scheinen in dieser Sicht die mathematisch-formale Beschreibung von Sachverhalten / Problemen und die Überführung der mathematischen Beschreibung in vom Computer ausführbaren Codiersystemen zu sein.

 

Mit dieser Sichtweise ist es möglich, einerseits von Brauchbarkeiten hergestellter informationstechnischer Produkte und andererseits vom konkreten Vorgehen bei der Erstellung dieser Produkte abzusehen. Dennoch ist es grundlegend für das Verständnis der im Studium gelehrten und eingeübten Funktionsweisen, zu wissen, wozu die behandelten Sachverhalte eigentlich taugen, und es ist zur Bewältigung der im Informatikstudium gestellten Übungs- / Programmieraufgaben unabdingbar, eine Vorstellung davon zu haben, wie bei bei der Herstellung von Software vorzugehen ist. Obwohl sie weder als Vorkenntnisse vorausgesetzt werden noch im expliziten Studienplan vorkommen, werden bei den Studierenden Qualifikationen sowohl bzgl. der Brauchbarkeit also auch bzgl. des Vorgehens erwartet, implizit vorausgesetzt und in die Bewertung einbezogen.

 

Forderungen zur Verbesserung des Informatikstudiums

Wir gehen davon aus, daß der wesentliche Anteil des Tuns von InformatikerInnen darin besteht, Modelle über die Realität zu bilden und durch Vergegenständlichungen dieser Modelle wiederum in die Realität verändernd einzugreifen. Durch Informationstechnik werden Arbeitsplätze, Alltag und Lebensbedingungen in großem Stil verändert. Angesichts solcher Definitionsmacht müßten neben Qualifikationen zur Formalisierung und Funktionsweisen im Informatikstudium auch Fähigkeiten zum Umgang mit subjektiven Sichtweisen, gesellschaftlichen und individuellen Konstellationen und Interessen erworben werden. Es würde also um Kenntnisse gehen über gesellschaftliche wie individuell-subjektive Voraussetzungen und Konsequenzen des modellierenden Aufgreifens von und modellgeleiteten vergegenständlichenden Eingreifens in menschliche Lebensbedingungen. Für eine Informatik in diesem Sinne sind viele Kompetenzen und Vorerfahrungen günstig, die bislang im Informatikstudium noch nicht explizit honoriert werden. Es ist nicht einzusehen, warum etwa Basteln ohne Qualifikationen zum Umgang zwischen Menschen die bessere Voraussetzung am Anfang des Erwerbs von Berufsqualifikationen zu einer verantwortungsvollen informatischen Tätigkeit sein soll als viel zwischenmenschliche und wenig Bastelerfahrung.

 

Wenn wir ein frauen- bzw. menschengerechteres Informatikstudium fordern, so können wir uns vorstellen, daß dort nicht nur Funktionsweisen, sondern auch Brauchbarkeiten und Bedeutungen von informationstechnischen Produkten, informatischen Konzepten, Methoden und Theorien explizit thematisiert werden, individuelle Zugänge / Interessen zum Tragen kommen und das Vorgehen beim Setzen von Lebensbedingungen sorgfältig betrachtet wird. Ein möglicher Vorschlag, um dies zu realisieren ist unseres Erachtens eine historische Herangehensweise als Zugang zu Brauchbarkeiten, Projektstudium als realitätsnahe und individuelle Zugänge berücksichtigende Veranstaltungsform und die Förderung von forschendem Lernen als wissenschaftliche und berufsqualifizierende Aneignungsform.

 

Historische Herangehensweise

Mit einer historischen Herangehensweise kann eine Vorstellung darüber entstehen, in welcher Art von Konstellationen Sachverhalte (z. B. Geräte, Programme, Konzepte, Theorien, Methoden) entstehen bzw. sich durchsetzen konnten. Eine wichtige Frage ist, welche Personen und gesellschaftlichen Gruppen welche Vorstellungen über Zwecke und Funktionen bestimmter Sachverhalte hatten. Bei der Betrachtung historischer Alternativen (auch Sackgassen) wird klar, daß es prinzipiell immer mehr Möglichkeiten gab / gibt als diejenigen, die aus einer späteren Sicht vorherrschend sind. Ein historischer Blick ist immer ein Blick für Möglichkeiten, Vielfalt, Interessen, Konstellationen und Dynamiken. Die aktuelle historische Situation - diejenige, in der beispielsweise das Informatikstudium stattfindet - kann begriffen werden als Übergang zwischen Vergangenem und Zukünftigem, als auf vergangenen Entwicklungen und Auseinandersetzungen beruhend und mit Konsequenzen für das künftige Leben. Für die Studierenden liegt es bei einer solchen Herangehensweise näher, sich als aktiv Bedeutungen und Bedingungen Schaffende zu verstehen, als bei der - scheinbar subjektunabhängigen und im Sinne des Eingreifens in individuelle und kollektive Lebenszusammenhänge neutrale - Umcodierungssicht.

 

Nach unserer Vorstellung braucht sich im Informatikstudium die historische Herangehensweise keineswegs auf geschichtliche Auseinandersetzungen über Sachverhalte zu beschränken, etwa auf Durcharbeiten und Strukturieren von Quellenmaterial mit anschließender Darstellung in Aufsätzen und Referaten. Vielmehr schlagen wir vor, sie im Rahmen des Informatikstudiums auch für die Erstellung von Programmen und für andere informatische Tätigkeiten zu nutzen. Wenn beispielsweise das Erlernen bestimmter Vorgehensmodelle, Modellierungstechniken und Programmiersprachen die Erarbeitung des Hintergrunds und der Folgen von deren Entstehung und Verbreitung mit einschließt, können die Studierenden deren Möglichkeiten und Grenzen realistischer einschätzen.

 

Projektstudium und forschendes Lernen

Als Veranstaltungsform schlagen wir das Projekt für vor: Eine Gruppe von Studierenden bearbeitet im Team unter Anleitung über einen längeren Zeitraum gemeinsam eine für den Alltag relevante Fragestellung. Diese Fragestellung ist so geartet, daß zu ihrer Bearbeitung informatische Konzepte, Theorien, Methoden und Vorgehensweisen (auch grundlegende) erworben werden müssen und können.

(Wir halten es für diskussionswürdig, ob die Studierenden die Fragestellung vorgegeben bekommen sollten oder ob sie sie selbst erarbeiten sollten. Würden Studierende etwa bei der Wahl der Fragestellung Ædünne BretterÒ bevorzugen, anhand derer sich gerade Grundlagen doch nicht erarbeiten ließen? Hieße dies etwa, daß die Veranstalterin unverantwortlich handelt, ihren Ausbildungsauftrag nicht erfüllt? Oder könnte die Veranstalterin darauf vertrauen, daß Studierende bestrebt sind, sich angemessen zu qualifizieren? Wäre die Suche nach geeigneten Fragestellungen als Teil des Studienprojekts vielleicht sogar eine besonders gute Vorbereitung auf die Arbeit als InformatikerIn, in der selten Aufgaben klar von außen festgelegt sind, sondern in komplexen und widersprüchlichen Zusammenhängen bearbeitbare Fragestellungen zugespitzt werden müssen?)

 

Durch ihre Erfahrungen haben Studierende zu vielem schon Vorannahmen, Erfahrungen, mindestens aber Fragen. Wird es in einem Projekt unterstützt, zunächst diesen Zugang offenzulegen (z. B. schriftlich oder als Bilder), so ist für alle Beteiligten erstaunlich, wie viele ernstzunehmende (Forschungs-) Fragen, -Hypothesen, -Annahmen, -Konzepte, -Methoden etc. schon vorhanden sind. Dieser Fundus sollte für die weitere Projektarbeit aufgehoben und nach selbst zu entwickelnden Kriterien erweitert und verändert werden. Die Bearbeitung der Fragestellung erfolgt, indem Hypothesen geprüft und bestätigt bzw. verworfen werden.

 

Grundlagen der Informatik sollten in Projekten nicht nur über Lehrbücher, sondern über Quellen, praktische Erfahrungen und deren Auswertung im Team angeeignet werden. So wird deutlich, wie strittig, interessenabhängig und subjektiv das ist, was zu bestimmten Zeiten als Grundlage gilt. Werden die Quellen dann entsprechend den Hypothesen und Fragestellungen strukturiert, so wird sowohl deutlich, wie unterschiedlich Quellen interpretiert werden können, als auch, daß die Quellen bzw. der Umgang mit ihnen wiederum auf die Annahmen und Hypothesen Einfluß haben. Die geschilderte Aneignungsform bezeichnen wir als forschendes Lernen.

Die Perspektiven und Vorkenntnisse aller Studierenden können bei der beschriebenen Veranstaltungs- und Arbeitsform einfließen und die Studierenden können, aufsetzend auf dem, was sie bereits können, weiterlernen, ihre jeweiligen Kompetenzen dort einsetzen, wo es sinnvoll ist und andere in dem Gebiet, in dem die eigene Stärke liegt, unterstützen. So kann allen Beteiligten deutlich werden, wie unterschiedlich relevante Qualifikationen in der Informatik aussehen können und daß es keine Person (-engruppe, etwa: Frauen) gibt, die zu einem solchen Arbeitsprozeß nichts beizutragen hätte. Wir denken, daß eine solche Veranstaltungs- und Aneignungsform ab dem ersten Semester und das ganze Studium über sinnvoll ist.

 

Schluß, Fragen

Praktische geschichtliche Lernprojekte mit forschendem Lernen sind nicht nur sinnvoll und erkenntnisfördernd, sondern dürften allen Beteiligten mehr Spaß machen als konventionelle Vorlesungen mit Übungsaufgaben. Oder???

Also: Wer könnte sich vorstellen, für die Informatica-Feminale-Sommeruni ein historisches Smalltalk-Projekt mit vorzubereiten und durchzuführen?