Curriculum-Workshop 1997

Positionspapiere

 

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Das Informatikstudium: Zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und Erwerb von Berufsfähigkeit?

 

4. und 5. Dezember 1997, Hotel Rosop, Barnstorf

 

Erster Workshop im Rahmen des Projekts Informatica Feminale – Sommeruniversität für Frauen in der Informatik

 

Workshop-Organisation
Veronika Oechtering und Dr.-Ing. Karin Vosseberg
AG Theoretische Informatik
Fachbereich Mathematik/Informatik

Universität Bremen
Postfach 330440
28334 Bremen

 

 

Die Rolle der Theoretischen Informatik
in der Lehre

 

Christine Röckl


email: roeckl ''at'' informatik.tu-muenchen.de


 


Einen großen Raum in der Curriculumsdebatte in der Informatik nimmt die Frage nach den Zielen eines Informatikstudiums ein. Dies wird auch in den bislang veröffentlichten Positionspapieren deutlich. Dabei wird von allen Seiten, gerade auch von den Ingenieursverbänden ([Mah97], zitiert nach [BP97]) eine deutlichere Gewichtung organisatorischer und sozialer Kompetenzen gefordert. Die in den Positionspapieren immer wieder propagierte Einführung studienbegleitender Projekte halten wir für einen sinnvollen Weg, neben fachlichen auch diese Fertigkeiten zu trainieren.

Doch halten wir es auch für essentiell, in der Debatte die Frage nach dem Zugang zum Informatikstudium zu diskutieren. Wir sind der Meinung, daß hier die Theoretische Informatik eine gewichtige Rolle spielen kann und sollte. Gerade der Diskurs über die Theorie in der Informatik (vgl. etwa [Coy92,Dij89,Tho95]) hat hier wichtige Diskussionsbeiträge geliefert.

Vor diesem Hintergrund wollen wir uns nun mit einigen Hauptvorwürfen an die Theorie auseinandersetzen, um anschließend die Rolle der Theorie für den Zugang zur Informatik zu skizzieren.

 

Vorwürfe an die Theorie

Die Theoretische Informatik sieht sich auf dem Gebiet der Lehre hauptsächlich drei Vorwürfen ausgesetzt:

  1. Der Anteil theoretischer Grundlagenveranstaltungen sei zu hoch [Mah97].
  2. Der Bezug zur Verwendung der Grundlagen werde nicht klar [BP97].
  3. Die Inhalte bestünden hauptsächlich aus "alten Hüten". Für [Tho95] besteht daher die Gefahr einer Meinungsbildung, die gesamte Theoretische Informatik sei nichts anderes als ein "alter Hut":
    "TCS is what you find in Hopcroft-Ullman".

Gegen den ersten Vorwurf, der gerade unter Studierenden oft laut wird, verwehren sich sämtliche der bisher veröffentlichten Positionspapiere. Auch ist er von Seiten der Studierenden vor allem unter dem Aspekt nachvollziehbar, daß die theoretischen Fächer oftmals die schwerste Hürde auf dem Weg zum Diplom darstellen. Wir halten diesen Vorwurf auch nicht für gerechtfertigt, sehen jedoch die Notwendigkeit, den StudienanfängerInnen zu vermitteln, daß die Theorie einen fundierten Zugang zur Informatik ermöglicht (siehe auch zweiter Abschnitt).

Punkt 2 muß bei der Konzipierung theoretischer Veranstaltungen auf jeden Fall Rechnung getragen werden. Da unter dem derzeitigen Druck des Arbeitsmarktes und dem gängigen Drang zum schnellen Studienabschluß die Beschäftigung mit Themen, die nicht unmittelbaren Einfluß auf den Studienabschluß haben, nicht erwartet werden kann [Kor97], ist die Notwendigkeit gegeben, den Studierenden derartige Bezüge in den Lehrveranstaltungen stärker klar zu machen. Dabei geht es jedoch nicht allein um den Bezug der Theorie zur Praxis, sondern ebenfalls um den Zusammenhang der verschiedenen Domänen der Theorie untereinander. Da die Forschung selbst vielfach in kleinen, stark voneinander abgegrenzten Communities stattfindet [Tho95], ist es für die Theorie oftmals schwer, die Bezüge herauszufinden und adäquat darzustellen. Es genügt eben nicht, das Thema mit Aussagen der Form

"Formale Sprachen sind wichtig im Compilerbau",

"Reduktionen braucht man für Entscheidbarkeits- ebenso wie für Komplexitätsfragen" o.ä.

abzutun. Hier besteht dringender Handlungsbedarf innerhalb der Theorie (vgl. auch [Tho95]). Die starke Zersplitterung in einzelne stark spezifische Vorlesungen, wie sie derzeit vor allem im Hauptstudium praktiziert wird, halten wir für reformbedürftig. Durch Neuanordnung von Lehrinhalten und Zusammenfassung einzelner Teilbereiche ließe sich eine kompaktere Darstellungsweise erzielen. Die Querbezüge kämen auf diese Weise wesentlich deutlicher zur Geltung.

Unter dem Aspekt des Bezugs der Theorie zur Anwendung sind allerdings auch die anwendungsorientierten Veranstaltungen gefordert, verstärkt auf die unterliegenden theoretischen Grundlagen hinzuweisen.

Einen Ansatz, um die Bezüge der einzelnen Teilbereiche der Informatik sichtbar zu machen, kann auch das Projektstudium bieten. Die Entwicklung und das Testen eines Werkzeugs etwa zur Protokollverifikation würde das Ineinandergreifen der drei Säulen Angewandte, Technische und Theortische Informatik verdeutlichen. In kleinerem Umfang werden derartige Lernformen mittels Theoriepraktika, so auch an der TU München, bereits praktiziert.

Der dritte Vorwurf ist aufgrund der Stagnation der Theoretischen Informatik in Bezug auf die Lehre entstanden. Neuere Forschungszweige haben nur schleppend Einzug in die Lehre gefunden. Dies muß zu einer frustrierenden Situation für die Studierenden führen, da sie einerseits ständig mit der Schnellebigkeit auf dem Hard- und Softwaresektor konfrontiert werden, andererseits aber Theoriewissen vermittelt bekommen, das unter Umständen lange vor ihrer Geburt formuliert wurde.

Hier sind zwei Ansätze zu verfolgen: Zum einen ist darauf hinzuweisen, daß die "klassischen" Erkenntnisse der Theoretischen Informatik einen ebensolchen Stellenwert aufweisen wie diejenigen in der Mathematik. Zum anderen ist es notwendig, schneller neue Erkenntnisse in die Lehre einzubeziehen, als es bislang gemacht wurde. Gerade hieran ließe sich dann auch deutlich machen, wie die Methodologien der klassischen Ergebnisse in die aktuelle Forschungsarbeit eingehen.

 

Die Theorie als Zugang zur Informatik

Oftmals wird der Sinn der Lehre der Theoretischen Informatik mehr in ihrer formalen, rigorosen Vorgehensweise als in der Vermittlung ihrer Inhalte gesehen [Tho95]. Die Theoretische Informatik verlangt und schult, wie die Mathematik, Abstraktionsfähigkeit und Strukturierungsvermögen. Diese Grundlagen sind unserer Ansicht nach unabdingbar für die Ausbildung von Methodenkompetenz, Systemkompetenz sowie Organisationswissen, grundlegende Forderungen der Ingenieursverbände an InformatikerInnen ([Mah97], zitiert nach [BP97]).

Mathematische Aspekte, und mit ihnen auch die Theoretische Informatik, werden gern als "Zugangsschneise" [Erb96] gerade für Frauen zum Informatikstudium gesehen, da diese meist nur vor dem Hintergrund guter schulischer Leistungen in der Mathematik ein Informatikstudium ergriffen [Sch97]. Gute Schulnoten in der Mathematik als solche haben unserer Ansicht nach nicht unbedingt Aussagekraft im Hinblick auf einen späteren Studienerfolg, gerade auch im Hinblick auf die Theoretische Informatik. Wichtig ist wohl vielmehr die Bereitschaft zu einem exakten Arbeitsstil, die bei Studentinnen oft stärker ausgeprägt ist als bei ihren männlichen Kommilitonen.

Wir sehen die Theoretische Informatik als guten Einstiegsweg für alle an, wollen dabei jedoch weniger das "Mathematische" in den Vordergrund stellen als das Wissen und die Fertigkeiten, die eine eingehende Beschäftigung der Studierenden von Anfang an mit der Theorie ausbilden hilft.

In einem Faltblatt für Schülerinnen stellen wir die Voraussetzungen zum Studium der Informatik denn auch folgendermaßen dar: \begin{quote} Einer Studienanfängerin sollte es Spaß machen, praktische Probleme strukturiert zu lösen. Das erfordert eine gewisse Abstraktionsfähigkeit. Wem Mathematik leicht fällt, hat dafür gute Voraussetzungen. Ein Leistungskurs in Mathematik ist aber nicht notwendig. Wichtig ist aber auch ein exakter Arbeitsstil, aber damit haben Mädchen erfahrungsgemäß ohnehin wenig Probleme. Bereitschaft zur Teamarbeit sollte eine angehende Informatikerin ebenso mitbringen. Einsame Hacker ohne Kontakt zur Außenwelt sind nicht gefragt. \end{quote} Doch hilft ein theoretisch fundiertes Studium nicht nur, diese essentiellen Fertigkeiten zu fördern. Da viele Studierende das Informatikstudium mehr als eine Möglichkeit der Zertifikatserlangung ansehen und meinen, bereits "alles zu können" [Kor97], halten wir es für wichtig, gerade diesen von Anfang an einen zweiten, wissenschaftlicheren, Weg aufzuzeigen: Durch die Vorstellung verschiedener Möglichkeiten der formalen Herangehensweise an Probleme sowie von Strategien zur Lösungsfindung lernen die Studierenden eine Alternative zu der vor allem von Programmierfreaks internalisierten "Feld-, Wald- und Wiesenmethodik" kennen. Gerade Frauen, die oft mit mangelndem Selbstbewußtsein zu kämpfen haben, kann dies Auftrieb geben. Auch ließe sich so den "Young-boys-networks" [Sch97] eher der Wind aus den Segeln nehmen.

Natürlich muß sich die Theorie, um weiterhin eine tragende Rolle einzunehmen, aus ihrem momentanen Status der Stagnation befreien. Dies umso mehr, als sich die Theorie auf dem Gebiet der Lehre derzeit massiven Vorwürfen ausgesetzt sieht (siehe erster Abschnitt). Wir wollen noch einmal die Hauptmaßnahmen skizzieren, die wir für die die Lehre in der Theoretischen Informatik für nötig erachten:

Fazit

Die Theoretische Informatik sieht sich derzeit gerade in der Lehre dem Druck ausgesetzt, ihren Platz verteidigen zu müssen. Wir sind der Meinung, daß sie einen wissenschaftlich fundierten Zugang zu allen Aspekten der Informatik ermöglicht. Jedoch ist sie gefordert, Bezüge zu den anderen Gebieten der Informatik, gerade auch sich selbst, deutlich zu machen und die Lehre anhand der internen Zusammenhänge neu auszurichten.

 

Literatur

[BP97] A. Brüggemann-Klein und B. Paech. Projekte als wesentliches Gestaltungselement eines veränderten Informatik-Curriculums: Ein Konzept für eine Lehrveranstaltung der Bremer Sommeruniversität. Positionspapier, 1997.
[Coy92] W. Coy. Für eine Theorie der Informatik. In Sichtweisen der Informatik. W. Coy et al., 1992.
[Dij89] E. W. Dijkstra. On the Cruelty of Really Teaching Computing Science. In Comm. of the ACM 32, pages 1398-1404, 1989.
[Erb96] U. Erb. Frauenperspektiven auf die Informatik. Informatikerinnen im Spannungsfeld zwischen Distanz und Nähe zur Technik. Westfälisches Dampfboot, 1996.
[Kor97] K. Kornwachs. Um wirklich Informatiker zu sein, genügt es nicht, Informatiker zu sein. Informatik-Spektrum, 20(2):79-87, 1997.
[Mah97] A. Mahn. Informatische Berufsfähigkeit. Informatik-Spektrum, 20(2):88-94, 1997.
[Sch97] H. Schelhowe. Informatik - innovative Forschung und Lehre für Frauen. In Frauenuniversitäten: Ein Reform-Projekt im internationalen Vergleich. Leske + Budrich, 1997
[Tho95] W. Thomas. Some subjective impressions on TCS. ASMICS Workshop, Evreux, 1995, http://www.informatik.uni-kiel.de/~wt