Curriculum-Workshop 1997

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Das Informatikstudium: Zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und Erwerb von Berufsfähigkeit?

 

4. und 5. Dezember 1997, Hotel Rosop, Barnstorf

 

Erster Workshop im Rahmen des Projekts Informatica Feminale – Sommeruniversität für Frauen in der Informatik

 

Workshop-Organisation
Veronika Oechtering und Dr.-Ing. Karin Vosseberg
AG Theoretische Informatik
Fachbereich Mathematik/Informatik

Universität Bremen
Postfach 330440
28334 Bremen

 

 

Positionspapier Informatica feminale

Elke Lang
Frauenbeauftragte
Universität Hildesheim
Institut für Angewandte Sprachwissenschaft
Institut für Physik und Technische Informatik
Marienburger Platz 22

 

Einleitung

Der Frauenanteil an den Studierenden der Informatik und der Beschäftigten in diesem Berufsfeld ist nach einem bescheidenen Zwischenhoch bei knapp 20% in den späten 80er Jahren kontinuierlich gefallen und liegt nun im Bereich des Frauenanteils in den Natur- und Ingenieurwissenschaften. Dies betrifft vor allem die "Kerninformatik"; bei den "Bindestrich-Informatiken" und verwandten Studiengängen wie etwa der Informationswissenschaft sieht das Verhältnis etwas besser aus. Vordergründig scheint dies leicht erklärbar und auf genau diese erklärbaren Unterschiede beschränkt zu sein: für Frauen attraktive Neben- und Anwendungsfächer wie Medizin und Sprachen sorgen für höheres Interesse und Akzeptanz in den "weichen" Spielarten des Fachs, die "harten", von den Ingenieurswissenschaften oder der Mathematik geprägten Gebiete wie Technische Informatik und die Bereiche der Theoretischen Informatik gelten als zu schwierig und werden von Frauen abgelehnt. Ist dies der einzige Grund? Gibt es nicht weitere, tieferliegende Gründe für die Abwendung von der Informatik als Studienfach? Die allgemein gesunkenen Studierendenzahlen sowie die gestiegene Aktivität der Gesellschaft für Informatik auf dem Gebiet der "Frauenmobilisierung" lassen dies vermuten.

 

Historische Entwicklung des Studienfachs Informatik, aktueller Stand

Die Informatik-Studiengänge sind meist aus Keimzellen von Programmierkursen hervorgegangen, die in Studiengängen wie Mathematik und Ingenieurswissenschaften abgehalten wurden und mit zunehmender Bandbreite der rechnerspezifischen Fächer (die im wesentlichen der heutigen Theoretischen und Praktischen Informatik im engeren Sinne entsprechen) verselbständigt wurden. Wegen der starken Personalkongruenz blieben die Grundlagenfächer der Ursprungsstudiengänge in starkem Maße erhalten und bestimmten die Fachkultur auch der neuen Studienrichtung. Auch die Lehrenden der neuen Fächer waren in der ersten Dekade meist Elektrotechniker, Mathematiker oder Ingenieure. Die technischen Möglichkeiten waren anfänglich begrenzt, ihre Beherrschung sowie die Aneignung des theoretischen Rüstzeugs ließ in der Ausbildung wenig Raum für die Einbeziehung von Anwendungsfächern. Bald jedoch wurde die Notwendigkeit gesehen, für bestimmte Anwendungsfächer interdisziplinäre Informatikausbildungen zu schaffen. Damit sollten SpezialistInnen herangebildet werden, die über fundiertes theoretisches Informatikwissen, aber auch über umfangreiche Kenntnisse im Anwendungsfach verfügen, um mit Fachvertretern über den gemeinsamen Diskursbereich kommunizieren zu können. Interessant an der Entwicklung derartiger "Bindestrich-Informatiken" ist, daß ihr Entstehen nicht unbedingt an objektive Kriterien wie Anzahl der benötigten VertreterInnen der entsprechenden Spezialisierung geknüpft zu sein scheint. So gibt es schon seit längerer Zeit eine Chemie-Informatik, die auch durch entsprechende Fachgruppen in den Fachgesellschaften vertreten ist, und zahlreiche Personen, die sich in ihrer Tätigkeit diesem Bereich zurechnen. Studienangebote in dieser Richtung sind jedoch noch relativ neu und bilden vergleichsweise wenige AbsolventInnen aus. Demgegenüber gibt es seit 1972 einen Studiengang Medizinische Informatik, zu dem sich inzwischen einige weitere ähnliche Studienmodelle gesellt haben. Viele AbsolventInnen dieser Studiengänge sind nicht im Anwendungsgebiet Medizin tätig. Der Bereich Chemie-Informatik dagegen wird häufig von ChemikerInnen mit entsprechender Zusatzqualifikation besiedelt. Derartige Effekte hängen mit Sicherheit davon ab, inwieweit die VertreterInnen des Anwendungsfachs selbst bereit sind, sich in die für sie relevanten Informatik-Bereiche einzuarbeiten. Diese Bereitschaft ist in den technischen und naturwissenschaftlichen Fächern am größten - auch da, wo wie in der Chemie keine wesentlichen Inhaltskongruenzen vorhanden sind. Demgegenüber scheint die Kluft für MedizinerInnen so groß zu sein, daß eine Mediatorenfunktion zwischen Informatik und Anwendung für nötig gehalten wird.

 

In den mittleren 80er Jahren entwickelten sich Kern- und Bindestrichinformatik-Studiengänge zu Boomfächern mit NC-Zugangsregelung und hohen Überbuchungsraten. Das Interesse war auch bei Mädchen vergleichsweise groß. Waren die traditionellen technisch-naturwissenschaftlichen Fächern sowieso schon mit dem Stigma "das können Mädchen nicht" behaftet, so wurde spätestens der Blick auf durch "Zwangspromotion" verlängerte Studienzeiten und auf den Arbeitsmarkt mit seinem durch Männer-Netzwerke beschränkten Zugang zur Abschreckung. Die Informatik versprach weniger traditionalistischen Ballast, wegen der großen Nachfrage stellten Firmen auch Frauen ein, geradlinige Berufswege wurden nicht verlangt, was viele SeiteneinsteigerInnen nutzen konnten. Wegen der hohen Hardware-Preise hatten kaum StudienanfängerInnen praktische Programmiererfahrung, diese war bei vielen Lehrenden sogar verpönt. Besonders in den zulassungsbeschränkten Spezialstudiengängen kamen Männer eher durch wehrdienstbedingte Wartezeiten, Frauen oft durch bessere Abiturnoten zum Zuge, was zur Folge hatte, daß die Notenergebnisse der Frauen auch während des Studium tendenziell besser waren. Charakteristisch war dadurch auch, daß die männlichen Studierenden meist einseitig begabt waren und sich auf die Informatik konzentrierten, während weibliche Studierende oft die Informatik als attraktivste von mehreren Alternativen wählten.

 

Wodurch kam die Trendwende?

Zum einen verlor die Informatik ihren Nimbus als Trendfach und wurde darin beispielsweise von der Betriebswirtschaft abgelöst. Der Einbruch im Arbeitsmarkt schreckte diejenigen ab, die die Informatik wegen der guten Beschäftigungsmöglichkeiten gewählt hatten. Dies veranlaßte vielseitig Begabte, sich auch anderen Fächern zuzuwenden, während einseitig Fixierte versuchten, innerhalb des Fachs durch geeignete Schwerpunktsetzung oder andere Anpassungsreaktionen ihre Qualifikation zu erhöhen.

Während die Informatik der 80er Jahre auf das bildungsbürgerliche Spektrum an Vorkenntnissen aufsetzte, brachte der technische Fortschritt eine Wende. Die Hoffnung auf "programmerless programming" und ein baldiges Abnehmen von systemnahen zugunsten von analytisch-planerischen Tätigkeiten hatte das Interesse von vielseitig gebildeten Persönlichkeiten angesprochen. Die Notwendigkeit, sich unter großem Zeitaufwand mit aufwendigen, benutzungsunfreundlichen, wenn auch leistungsstärkeren Betriebssystemen und Programmierwerkzeugen zu befassen, schreckte diesen Kreis, dem viele weibliche Studierende angehörten, ab und begünstigte einseitig Interessierte und Begabte. Die Vorverlagerung des "Computer-Anfangsalters" in die Schulzeit mit unterschiedlichen Zugangschancen für Mädchen und Jungen verstärkte die Sozialisationsunterschiede. Zum Zeitpunkt der Berufs- oder Studienfachwahl stand damit auch auch auf dem Gebiet der Informatik zweifelsfrei fest: "Das können Mädchen nicht".

 

Ist diese Trendwende unumkehrbar?

Die mageren Jahre auf dem Arbeitsmarkt sind inzwischen überwunden, wenn auch die Nachfrage sicher nicht auf dem momentanen Stand bleiben wird. Interessanterweise haben sie immerhin gezeigt, daß es sehr wohl möglich ist, Teilzeitstellen für InformatikerInnen zu schaffen, wenn auch nur wegen Geldknappheit des Arbeitgebers und nicht etwa den ArbeitnehmerInnen zuliebe. Weiter ist es eine interessante Beobachtung, daß in vielen Bindestrich-Informatiken bei fallender Gesamtnachfrage das Geschlechterverhältnis gleich geblieben ist, also der Frauenanteil nicht gefallen ist. Diese Konstruktion erfreut sich also bei Frauen anhaltender Beliebtheit, genauso wie die Studiengänge der Informationswissenschaft. Ganz stark ist dieses Phänomen bei Anwendungs- und Nebenfächern, die bei Frauen bekanntermaßen beliebt sind. Dadurch erhebt sich allerdings die Frage, ob dieser bekannte Trend für den übergeordneten Zweck zu nutzen ist - schließlich kann man nicht alle Informatik-Studiengänge mit geisteswissenschaftlichem Beiwerk garnieren, um sie attraktiver für Frauen zu machen.

Daß die Informatik-Ausbildung insgesamt reformbedürftig ist, dürfte jedoch genauso unumstritten sein. Es ist auch mit großer Sicherheit eher diese Tatsache, von der die offiziellen Fachvertreter auf den Plan gerufen wurden, als die "Frauen-Frage" an sich. Es sind meiner Meinung nach drei Problemkreise, auf die eine angemessene Antwort in verbesserten Curricula gefunden werden muß:

 

1. Einbeziehen von "Schlüsselqualifikationen". Diese Entwicklung ist inzwischen schon einige Jahre alt und hat in der Primar- und der betrieblichen Bildung bereits ihren Niederschlag gefunden. Das Vermitteln von Schlüsselqualifikationen im Rahmen von Studiengängen ist jedoch immer noch nicht üblich, so daß Lerninhalte wie Arbeitstechniken, Kommunikationsformen, Interaktion in Arbeitsgruppen, Organisation von Lernprozessen usw. auf Weiterbildungs- und Volkshochschulkurse verwiesen werden. Es wäre an der Zeit zu erkennen, daß dieses Wissen ebenso Berufsvoraussetzung ist wie die klassischen Studieninhalte.

 

2. Organisatorische Diversifizierung der Fachinhalte. Ein Blick in die Entwicklung der Naturwissenschafts- und Technik-Fächer zeigt, daß mit dem "Erwachsenwerden" von Fächern, also mit der Entwicklung eigener Methoden und umfangreicher Inhalte, zwangsläufig eine deutliche Abgrenzung der Ausbildung gegenüber verwandten Fächern und möglicherweise sogar eine Aufteilung in mehrere Sparten erfolgen muß, um eine Ausbildung in endlicher Zeit und nicht zuletzt eine sinnvolle, berufsbezogene Profilierung zu erzielen. In diesem Zusammenhang muß für die Informatik gründlich geprüft werden:

- Ist die Abgrenzung gegenüber den Grundlagen- und Parallelfächern (Mathematik, Elektrotechnik, Nachrichtentechnik) in richtigem Maße und an den richtigen Stellen erfolgt? Könnte durch eine Verschlankung oder durch aktuelle Lernorganisationsverfahren wie Modularisierung Raum für dringender benötigte Inhalte geschaffen werden? Hier sollte auch überdacht werden, ob eine Vermittlung von Grundlagen der allgemeinen Naturwissenschaften und klassischen Ingenieursdisziplinen der Fähigkeit zum lebenslangen Weiterlernen nicht dienlicher ist und eine solche Konzeption vielseitig interessierten Studierenden nicht mehr entgegenkommt als eine Überspezialisierung bereits in der Grundlagenausbildung.

- Läßt sich durch eine deutlichere Spartenbildung die Grundlagenausbildung entsprechend entflechten und übersichtlicher machen und kann damit die Überfrachtung mit zuviel auseinanderstrebenden Inhalten vermieden werden? Vor zehn Jahren steckten viele Spezialbereiche (Datenübertragung, Graphische Datenverarbeitung, Multimedia-Anwendungen) noch in den Kinderschuhen oder existierten noch gar nicht, die inzwischen einen eigenen Methodenkanon besitzen oder ergänzende außerfachliche Qualifikationen benötigen. Entsprechende Schwerpunktbildungen für die Hauptstudienphase haben sich daraus meist schon ergeben, zum Teil auch schon neue Studiengangsprofilierungen wie Software Engineering oder Multimedia-Informatik. Eine konsequente Fortführung dieser Entwicklung wäre sicher konstruktiver als ein immer kühnerer Spagat zwischen nicht mehr zusammenpassenden Arbeitsfeldern.

 

3. Neudefinition des Verhältnisses zu Anwendungsfächern. Eine Schärfung des Informatik-Profils wie unter 2. beschrieben sowie die Einbeziehung der unter 1. skizzierten Grundqualifikationen läßt Raum, auch in der Ausbildung das Verhältnis zu Anwendungsfächern neu zu gestalten. Die Zeiten sind vorbei, in denen mit großem technischem Aufwand auch trivialste Alltagsanforderungen immer neu kundenspezifisch erstellt wurden. Heutzutage tritt die Gestaltung von Lösungen komplexer Problemstellungen in den Vordergrund. Hierfür müssen InformatikerInnen Vorkenntnisse der zu bearbeitenden Problemfelder besitzen, die sich nicht ad hoc mit den üblichen Analyse- und Beobachtungstechniken erwerben lassen. Wer Anwendungen erstellt, muß sich darauf einrichten, durch eine gewisse fachliche Beschränkung tiefe Kenntnisse des gewählten Fächerspektrums zu erwerben und in die Gestaltung von komplexen Lösungen einzubringen. Diese Fähigkeit kann durch die intensive Beschäftigung mit einem Anwendungsfach im Rahmen des Studiums geschult werden. Die oft sogar beklagte Fächerfluktuation von Bindestrich-InformatikerInnen in der Berufsphase zeigt außerdem, daß die erworbenen Fähigkeiten nicht nur auf das primär erlernte Anwendungsgebiet beschränkt sind. Hierfür muß allerdings eine angemessene Vermittlung grundlegender Lern- und Arbeitstechniken gegenüber einer übergroßen Faktenfülle in den Vordergrund treten.

Es zeigt sich, daß die Misere des geringen Frauenanteils in der Informatik zu einem guten Teil eine allgemeine Misere des Fachs ist, wenn auch viele andere Faktoren beteiligt sind. Viele Probleme können durch eine Umgestaltung des Studiums nicht verbessert werden, wie etwa die unterschiedliche primäre Computersozialisation, die heute bereits vor der Studienphase erfolgt. Es ist jedoch offensichtlich, daß im Zuge einer allgemein und geschlechtsunabhängig notwendigen Reform des Fachprofils und insbesondere der Bestimmung von Studieninhalten durchaus wieder eine Richtung eingeschlagen werden kann, die Frauen aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten und Interessen zum Vorteil werden kann. Die Informatik deutlich zu einem Fach zu machen, das als methodische Plattform für vielseitig interessierte und gebildete Persönlichkeiten dienen kann, wird vermehrt Frauen ansprechen und sie dazu bewegen, ihre Eigenschaften zu kultivieren statt sie zu verbergen.